Hat das erstgeborene Geschwister automatisch das Anrecht auf die höchste Position im Unternehmen?
Vera Knauer, Expertin für Unternehmensnachfolgen erklärt: Familienunternehmen sind die häufigste Unternehmensform weltweit. Sie interagieren zwischen zwei Systemen, Unternehmen und Familie, die nach komplett verschiedenen Regeln und Dynamiken funktionieren. Im Familiensystem stehen Solidarität, Harmonie und Gleichberechtigung im Vordergrund. Auch bei der Unternehmensnachfolge haben die Eltern den Wunsch nach Gleichbehandlung ihrer Kinder und empfinden es als vorteilhaft, die Last der Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen zu können.
Komplexe Herausforderungen an Unternehmen durch Digitalisierung, Globalisierung und anderen Megatrends, lassen sich in der Regel in Geschwistergesellschaften besser bewältigen, da die unterschiedlichen Kompetenzen und Sichtweisen das Unternehmen robuster und resilienter in seiner Entscheidungsfindung machen. Das setzt voraus, dass Geschwister sich ergänzende Fähigkeiten mitbringen und diese gegenseitig anerkennen, sich vertrauen und Verständnis füreinander haben. Das ist aber nicht selbstverständlich, denn in Familien sind die Dynamiken und Geschwisterkonflikte oft intensiv. In einer Nicht-Unternehmerfamilie reagieren die Geschwister oft damit, dass sie sich aus dem Weg gehen. In Geschwistergesellschaften ist dies nicht möglich und die Konflikte wirken sich auf die Arbeitssituation und damit dem Fortbestand des Vermögens der Unternehmerfamilie aus. Zudem muss jedes Geschwisterkind sein eigenes Lebensmodell in Abhängigkeit von der engen Verknüpfung von familiärer Konstellation und unternehmerischer Struktur entwickeln. Konträr dazu funktioniert das Unternehmenssystem nach den Spielregeln von Selektion und Wettbewerb. Die Besetzung der Führungspositionen mit den dafür fähigsten Personen ist ein entscheidender Faktor für das Überleben des Unternehmens. Die Unternehmensnachfolge muss also beiden Intentionen folgen.
Im systemischen Ansatz dienen die Metaprinzipien und Grundannahmen nach von Kibéd und Sparrer der Hinterfragung belastender Muster. Das „Prinzip der Akzeptanz des Gegebenen“ ist das erste grundlegende Metasystem und bedeutet für Organisationen und Familien, das Familiensystem als gegeben zu respektieren. In diesem System darf kein Mitglied ausgeschlossen werden. Der Platz, den ein Geschwisterkind in der Reihenfolge einnimmt, ist entscheidend und muss mit seinen speziellen Eigenschaften respektiert und die natürliche Rangfolge im Verhalten und in der Kommunikation akzeptiert werden, damit ein gesundes und harmonisches Familiensystem gewährleistet ist.
Gemeint ist damit nicht, dass der Erstgeborene zwangsläufig die höchste Position in der Unternehmensnachfolge einnimmt. Jedoch muss allen Beteiligten klar sein, dass der Platz als Erstgeborener im Familiensystem von einem jüngeren Geschwister nicht strittig gemacht werden soll. Die Position des Erstgeborenen ist symbolisch durch Anerkennung seines Platzes im Familiensystem zu berücksichtigen, wenn ein jüngeres Geschwister im Unternehmen eine höhere Hierarchiestufe als die oder der Erstgeborene einnimmt.
Das zweite Metaprinzip regelt den Inhalt und die Reihenfolge der Berücksichtigung der Grundannahmen. Änderungen in der Geschwistergesellschaft, beispielsweise, wenn ein wesentlich jüngeres Geschwister in das Familienunternehmen nachrückt, oder eine Tochtergesellschaft gegründet wird, erfordern eine Umkehrung des Prinzips „Vorrang des Früheren vor dem Späteren“. Solche Situationen bedürfen einer vermehrten Aufmerksamkeit, um innere Stabilität zu ermöglichen. Um eine gerechte Regelung für alle Familienmitglieder zu finden, empfehle ich die Verfassung einer Familien-Charta.